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Valeria Luiselli: Die Geschichte meiner Zähne

Gustavo Sánchez Sánchez, auch bekannt als Highway, ist nach eigenen Angaben nicht nur der beste Auktionator der Welt, sondern auch der stolze Besitzer einer großen Sammlung erlesener Memorabilien. Jedes einzelne hat eine Geschichte, die ihm unschätzbaren Wert verleiht. Das wichtigste Stück hat er immer bei sich – statt seiner eigenen trägt er die Zähne Marilyn Monroes. In Die Geschichte meiner Zähne (Verlag Antje Kunstmann, 2016, übersetzt von Dagmar Ploetz) erzählt Valeria Luiselli Highways Lebensgeschichte, aber das ist noch lange nicht alles: Sie untersucht den Wert von Kunst, experimentiert mit Erzählstilen, nimmt Bezug auf klassische und zeitgenössische Philosophie und Literatur und kombiniert sie zu einer irrwitzigen Montage aus kleinen und großen, wahren und erfundenen, wichtigen und nebensächlichen Ereignissen.

Beim Übersetzen dazugewinnen

Als Tochter eines mexikanischen Diplomaten hat Valeria Luiselli einen Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht; im Moment lebt und lehrt sie in New York. Sie verfasst und veröffentlicht ihre Werke zunächst auf Spanisch, verändert sie aber häufig vor und während des Übersetzens ins Englische. Da sie die Übersetzungen eher als Versionen statt als wörtliche Übertragungen betrachtet, ist es nicht verwunderlich, dass die englische Übersetzung von Die Geschichte meiner Zähne ein Kapitel der Übersetzerin Christina MacSweeney enthält, das die Erzählung historisch einbettet. Luisellis Bücher gewinnen beim Übersetzen hinzu, was einer der Gründe für ihre große Beliebtheit auch außerhalb Mexikos ist. Ein anderer ist ihr Gefühl für wichtige Themen: In ihrem neuesten Buch Tell Me How It Ends: An Essay in Forty Questions (Coffee House Press, 2017, bisher nicht auf Deutsch erhältlich) erzählt sie von ihren Erfahrungen als Übersetzerin für minderjährige Immigrant:innen aus Lateinamerika, die in den USA einem Deportationsprozess gegenüberstehen.

Veränderung durch gemeinschaftliches Erzählen

Die Geschichte meiner Zähne war ursprünglich als Text für einen Ausstellungskatalog in der Galería Jumex gedacht, die von der gleichnamigen Saftfabrik finanziert wird. Doch dann wurde das Buch zu einem Versuch, zwei Welten zusammenzubringen, die oft als unvereinbar gelten, oder, wie Luiselli schreibt, „Galerie und Fabrik, Künstler:innen und Arbeiter:innen, Kunst und Saft“ (Übers. d. Aut.). Die Jumex-Fabrik befindet sich in Ecatepec de Morelos, einer ärmlichen, unscheinbaren Gemeinde im Norden von Mexiko-Stadt. Luiselli machte sie zum Schauplatz ihrer Geschichte und schickte ihren Text in Abschnitten an die Fabrikarbeiter:innen, die diese in einem Buchclub besprachen und ihre Meinung an sie zurückschickten. Die literarischen und kulturellen Anspielungen könnten dazu verleiten, das Buch als elitär abzustempeln; dabei zeigt es wunderbar, dass auch Menschen mit einem geringeren Bildungsniveau sich für komplexe Literatur begeistern können.

Die Geschichte meiner Zähne endet mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die gestalterische Kraft des Geschichtenerzählens: Im Alter nimmt sich Highway dem jungen Schriftsteller Jacobo de Voragine an. Er bringt ihm bei, wie man es umgeht, für sein Essen zahlen zu müssen, wie man umsonst öffentliche Verkehrsmittel benutzt und vor allem, wie er der erste Touristenführer von Ecatepec werden kann. Voragine ist skeptisch, ob er jemanden davon überzeugen könnte, die Gegend zu besuchen, die er als „physische Manifestation des Nichts“ beschreibt, aber Highway beteuert: „Die kommen ganz von allein. Das Wichtigste ist, Geschichten über die Nachbarschaft zu erzählen. Sobald du die hast, werden die Leute herströmen, um sie zu hören. Orte und Dinge sind aus Geschichten gemacht“ (Übers. d. Aut.). Vier Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs auf Spanisch gilt Ecatepec immer noch als gefährlich und Tourist:innen wird von einem Besuch abgeraten. Aber wer weiß, vielleicht nimmt sich irgendwann jemand Luisellis Idee an und macht die Gegend zu einem Ort für fantastische Geschichten, von denen Einwohner:innen und Besucher:innen gleichermaßen profitieren.

Diese Besprechung basiert auf der englischen Ausgabe des Buchs (The Story of My Teeth, Coffee House Press, 2014).

3 Gedanken zu „Valeria Luiselli: Die Geschichte meiner Zähne“

    1. Das war mein erstes Buch auf Spanisch! Mit einem A2-Niveau nicht ganz so einfach zu verstehen; umso größer meine Freude darüber, dass die englische Version ein zusätzliches Kapitel enthält. An deiner Rezension gefällt mir besonders die Erläuterung zum pícaro!

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