Dieses Buch ist leider bisher nicht auf Deutsch erhältlich.
Brian Doyles Belletristik-Debüt Mink River (Oregon State University Press, 2010) spielt in Neawanaka, einem kleinen, fiktionalen Dorf in der Mitte der Küste Oregons, dessen indigene Anfänge ungefähr 5000 Jahre zurückreichen. Die arbeitende Bevölkerung im Roman ist stark vom stetigen Rückgang der Fischerei und Holzfällerei betroffen. Irische Einwander:innen, neue wie alte, leben Seite and Seite mit Angehörigen der Salish-Nationen.
Die zahlreichen Figuren erzählen ihre Geschichten in unterschiedlichen Stilen. Poetische Passagen mit Auflistungen der Flora und Fauna des pazifischen Nordwestens wechseln sich mit Monologen über Familien- und Lokalgeschichte auf altmodischen Aufnahmegeräten ab, und atemlose Kapitel, die die gleichzeitigen Handlungen zweiter Figuren gegenüberstellen, folgen auf detaillierte Beschreibungen der Gedanken und Gefühle einer einzelnen Figur. Statt einer einzigen, zusammenhängenden Handlung ist Mink River eine Sammlung kurzer Einblicke in das Leben der Dorfbewohner:innen.
Armut beschreiben: Ein schwieriges Unterfangen
Neawanaka wird als eine enge Gemeinschaft dargestellt: Die Leute kennen einander und treffen sich regelmäßig. Manche von ihnen haben die Zeit, jeden Tag Abendessen zu kochen und ein frisches Brot zu backen. Andere verbringen ihre Tage damit, künstlerischen Tätigkeiten nachzugehen, die nur wenig Geld einbringen. So wirkt das Leben in dem verarmten Dorf einfach und stressfrei – ein Eindruck, der häufig entsteht, wenn fiktionale Texte Armut romantisieren.
Es gibt allerdings auch Handlungsstränge, die dieser Lesart widersprechen. Das Amt für Öffentliche Aufgaben, die außergewöhnliche Institution, die die Lebensqualität im Dorf verbessern soll, kann mangels ausreichender Gelder nur zwei Menschen beschäftigen. Der fürsorgliche Arzt muss sich in einer größeren Stadt Geld dazuverdienen, um weiter für die Dorfbewohner:innen sorgen zu können. Die Bevölkerung leidet unter Missbrauch, Gewalt, psychischen Krankheiten und tragischen Unfällen, und obwohl alle ihr Bestes geben, bleiben manche Ereignisse nicht verhindert werden – und bleiben sogar unbemerkt. Während viele Geschichten gut oder zumindest friedlich enden, bleiben andere offen; die Leser:innen können selbst über ihren Ausgang entscheiden.
Ein Ort, viele Stimmen
Ebenso haben nicht alle dieselbe Meinung zum Leben im Dorf. Manche sehen Neawanaka als „kleines Küstendorf ohne besondere ökonomische, kulturelle oder landschaftliche Merkmale“, andere glauben, es sei „ein brodelndes Melodrama schockierenden Ausmaßes“. Die einen glauben, es sei „vor langer Zeit von einem Heiler oder heiligen Mann der Salish-Nationen namens Sisaxai oder Sisaixi erfunden worden“, die anderen betrachten es hauptsächlich als „grübelnden, verrotteten Stumpf einer Stadt, in der Scheidung vorherrscht Depression normal ist und Alkoholismus das Beste ist was dir passieren kann“ (Übers. d. Aut.).
Obwohl Brian Doyle versucht, seine Spuren in diesem vielstimmigen Durcheinander zu verwischen, wird deutlich, dass der Autor fest an das Gute im Menschen glaubt: Selbst die Figuren, die anderen bewusst Schaden zufügen, werden menschlich dargestellt – eine Strategie, die nicht immer aufgeht. Seine Botschaft der Toleranz tritt auch in einem Gespräch über Armut, psychische Krankheiten und Widerstandskraft zutage: „Liebe kann niemanden retten. Aber ich habe Türen und Fenster gefunden. Ich glaube sie sind vielleicht immer da aber wir sehen sie nicht so gut. Vielleicht erfinden Menschen deshalb Religionen, um Fenster und Türen zu kennzeichnen. Vielleicht ist Kunst am Ende genau das“. (Übers. d. Aut.)
Mink River wirkt manchmal zu dicht erzählt, enthält einige abwegige Magic-Realism-Elemente und manch nicht sehr überzeugende Figur. Im Ganzen ähnelt das Buch eher einem Gemälde als einem Roman; jede Geschichte trägt wie ein Pinselstrich zum Gesamtwerk bei. Aus dieser Perspektive gelingt Brian Doyle trotz mancher Schwächen ein Portrait des Lebens an der Küste des pazifischen Nordwestens in der heutigen Zeit – die sozio-ökonomische Lage, die Schönheit der Landschaft, das Klima und Wetter und ihre Auswirkungen auf die Bewohner:innen spiegeln sich im Mikrokosmos von Neawanaka wider.