Irgendwann während der siebzehnstündigen Zugfahrt von Portland nach San Francisco werden die satten Wälder des pazifischen Nordwestens zu den mit gelb-grünen Wiesen und Büschen bewachsenen Hügeln der Bay Area. Ursprünglich war das Volk der Ohlone die größte indigene Gruppe südlich der Küsten-Salish-Nation. Zu ihnen gehörten auch die Yelamu, die die Gegend des heutigen San Francisco besiedelten, aber ihre Spuren sind nur noch schwer zu finden. Die Zeiten der Kolonisierung durch Spanien und die frühere Zugehörigkeit zu Mexiko sind dagegen weiterhin in vielen Orts- und Straßennamen sichtbar.
Obwohl die Bay Area für ihre rege Literaturszene bekannt ist, fällt es mir schwer, die zugehörigen Orte und Menschen ausfindig zu machen: Für das Oakland Book Festival bin ich zu spät, für Litquake zu früh dran, und online kann ich nicht viel über wöchentliche literarische Veranstaltungen herausfinden. Vielleicht suche ich mit den falschen Stichworten? Glücklicherweise sind die Orte, die ich dann doch finde, so spannend, dass es keine Rolle mehr spielt.
Ein Gebäude, viele Geschichten: Die San Francisco Public Library
Mein erster Halt ist die San Francisco Public Library. Die Geschichte des Hauptzweigs spiegelt die Geschichte der Stadt wider: 1906 und 1989 wurde das Gebäude am Civic Center durch Erdbeben massiv beschädigt. 1993 zog die Bibliothek an ihren heutigen Standort und ihre Überbleibsel wurden zum Asian Art Museum umgebaut. Die Umsiedlung war Teil eines Digitalisierungsplans, der auch vorsah, Bücherwände durch Computerräume zu ersetzen und viele Bücher, darunter seltene und vergriffene Ausgaben, zu zerstören. Um das zu verhindern, wurden die Bibliothekar:innen aktiv, retteten Bücher und alarmierten die Öffentlichkeit, was schließlich dazu führte, dass der Plan verworfen wurde.
Im Hauptgebäude sind alle möglichen gedruckten Medien, eine Vinylsammlung, Computer und ausleihbare Geräte für mobilen Internetzugang zu finden. Die Ausstellungen auf allen Stockwerken zeigen lokale, nationale und internationale Künstler:innen, behandeln historische Ereignisse im politischen Leben der Stadt und erkunden das Verhältnis von Kunst und Aktivismus. Der Einsatz für Vielfalt in der Bibliothek zeigt sich schon im Programm für die jüngsten Besucher:innen, das eine Drag-Queen-Vorlesestunde beinhaltet. Das Jugendprogramm The Mix fördert Freiwilligenarbeit und bewirbt die Bibliothek als späteren Arbeitsplatz. Da große Gepäckstücke erlaubt sind, können Besucher:innen ohne festen Wohnsitz ihren Besitz mitbringen.
Seit 2008 kann man im sechsten Stock eine Erzählbox finden. Installiert wurde sie von StoryCorps, einem US-weiten Projekt, das 2003 in New York gegründet wurde und sich dem Sammeln, Teilen und Bewahren mündlich tradierter Lebenserfahrung widmet. Die Organisation hat das bisher größte Archiv afroamerikanischer Erzählungen in der US-Geschichte aufgebaut. Besucher:innen können einen Termin vereinbaren und ihre besonderen Erlebnisse in Interviewform aufnehmen, die dann redaktionell bearbeitet im Morgenprogramm des Radiosenders NPR ausgestrahlt werden. Archivierte Erzählungen kann man auf der Website des Projekts finden.
Erkundungen im Mission District
Mein zweiter Anlaufpunkt ist San Franciscos Mission District. Das Viertel ist von Migration geprägt: Zuerst Arbeiter:innen aus Europa, dann ab den 1940ern aus Mexiko und ab den 1960ern aus Zentralamerika. Während diese im Osten der Mission immer noch den größten Teil der Bevölkerung ausmachen, wohnen im Westen zunehmend junge Angehörige der Mittelschicht. Die Mission gilt als offen gegenüber Künstler:innen. Sie ist das Zuhause des gemeinschaftsorientierten Mission Cultural Center of Latino Arts sowie des ältesten nichtkommerziellen Kunstraums der Stadt Intersection for the Arts und des Schreib- und Nachhilfezentrums 826 Valencia, das dem BFI in Seattle ähnelt (und zeitweise mit diesem verbunden war). Auch hier zu finden sind die Buchhandlungen Dogeared und Alley Cat.
Auf dem Weg zu Alley Cat komme ich an Taquerías, bunten Wandgemälden und „Latino Cultural Quarter“-Straßenschildern vorbei und frage mich, wie stark der Wunsch, etwas zu finden, beeinflusst, was man tatsächlich findet. Vor Beginn meiner Reise beschloss ich, meine Zeit in Kalifornien der Kultur in Grenzgebieten zu widmen. Wie verhält sich mexikanisch-amerikanische Kultur gegenüber der dominanten US-Kultur und der mexikanischen Kultur? Ist der Begriff „Chican@“ Selbstbeschreibung oder Beleidigung? Sehen die Menschen ihre Zweisprachigkeit mit Stolz oder als Bürde? Und wie undurchlässig ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA im Alltag?
Borderlands Lectura: Schreiben über die verinnerlichte Grenze
So bin ich bei Alley Cat gelandet, der ersten Buchhandlung mit einem großen spanischsprachigen Sortiment und einer teilweise bilingualen Homepage. Wie viele unabhängige Buchhandlungen in den USA wird sie zudem als kleine Kunstgalerie und Veranstaltungsort genutzt. Eine der Veranstaltungen passt perfekt zu meinem Projekt: Die Borderlands Lectura, eine vierteljährliche Lesereihe, die von den Schriftstellerinnen Michelle Wallace und Sara Campos organisiert wird.
Am 15. Juni präsentieren Scott Duncan, Norma Liliana Valdez, Norman Zelaya, Sara Campos und John Jota Leaños Auszüge aus Autobiographien, Lyrik, Kurzgeschichten, Kapitel aus dem Manuskript für einen historischen Roman und einen dokumentarischen Kurzfilm, die sich mit der Erfahrung von physischen und metaphorischen, äußeren und verinnerlichten Grenzen beschäftigen. Manche von ihnen bezeichnen sich als „Chican@-Anglo“, „mestiz@“ oder „of mixed heritage“ (hertitage: Herkunft, Erbe), andere vermeiden Labels. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit unbekannten und etablierten Themen, fordern zum Umdenken bezüglich verbreiteter Vorurteile auf und sind gleichzeitig aufschlussreich und unterhaltsam.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko wird oft nicht nur als Grenze zwischen zwei Ländern, sondern zwischen zwei Kulturräumen dargestellt. Die Bewohner:innen der Mission und die Künstler:innen der Borderlands Lectura zeigen, dass Grenzgebiete Orte von Kulturkontakt und Kulturmischung sind, die manchmal Probleme, manchmal Freiheiten mit sich bringen. Sie verhandeln Bedeutung auf eine Weise, die nirgendwo anders möglich wäre. Und vor allem zeigen sie, dass einzigartige Orte einzigartige Texte inspirieren können, die hoffentlich zur Grundlage von Verständnis werden können.