Als Trägerin des Nobelpreises für Literatur 2013 ist Alice Munro als eine eher offensichtliche Wahl als erste Autorin auf einer Kanada-Leseliste. Das war nicht immer so. Im Vorwort zum Erzählband Runaway (Vintage, 2006) nimmt Jonathan Franzen an, dass ihre geringe Bekanntheit außerhalb ihres Heimatlandes damit zu tun hat, dass Autor:innen von Kurzgeschichten nur selten internationale Preise gewinnen. Wie auch immer es mit ihrem Bekanntheitsgrad aussieht: Munros dichte Schreibweise zeigt, dass eine Geschichte mit dreißig Seiten genauso komplex und provokant sein kann wie ein Roman mit dreihundert.
In Runaway geht es um Bewegung. Egal, ob klein und vorübergehend wie ein Tagesausflug in die nächste Stadt oder groß und dauerhaft wie der Umzug von der Ost- an die Westküste Kanadas, alle Figuren sind unterwegs. Manche versuchen, einem erstickenden Umfeld, tragischen Ereignissen oder gut bewahrten Geheimnissen zu entkommen. Andere bewegen sich auf etwas zu, sei es Liebe, Geld oder ein besseres Selbst. Munro taucht tief in die Psyche ihrer Figuren ein und legt ihre Makel und Mängel schonungslos bloß. Nach dem Lesen bleibt ein Gefühl des Unbehagens zurück.
„Chance“, „Soon“ und „Silence“ drehen sich um die Figur Juliet: Als Absolventin, als junge Mutter, als Witwe, die nach dem Tod ihres Partners und dem Verschwinden ihrer Tochter nach ihrem Platz im Leben sucht. Die Landschaft, Bräuche und Lebensumstände an der Küste von British Columbia von den 1930er bis in die 1960er Jahren werden in den Geschichten mit Juliets Gedanken und Gefühlen verwoben: Bei ihrer Ankunft in Whale Bay findet sie das Wetter zu feucht und regnerisch und die Schönheit des Waldes zu protzig; einige Jahre später hat sie sich das Inselleben gewöhnt und verteidigt ihr Dasein als langhaarige, unverheiratete Frau mit Kind vehement. In der letzten Geschichte wird allerdings klar, dass sie niemals wirklich Teil der Inselgemeinschaft geworden ist, die sie nach dem Tod ihres Partners für ein bequemeres Leben in Vancouver hinter sich lässt.
Die drei Geschichten werfen viele Fragen auf: Wie beeinflussen Landschaft, Klima und Kultur der Gegend, an dem wir aufgewachsen sind, unsere Wahrnehmung neuer Orte? Können wir die Werte, die uns in der Kindheit vermittelt wurden, jemals wirklich ablegen? Wie, wo und wann versuchen wir, Wurzeln zu schlagen? Und: Welche Rolle spielen die Perspektiven von Außenstehenden und Neuankömmlingen in einer Gemeinschaft? Munro spielt mit diesen Fragen, überlässt die Antworten aber der Leserschaft.