In Geschichte für einen Augenblick (S. Fischer Verlag, 2014) geht es um Verbindung – zwischen und trotz Menschen, Raum und Zeit. Die Handlung beginnt auf Cortes, einer der Discovery Islands am nördlichen Ende der Georgia-Meerenge, als Ruth dort am Strand ungewöhnliches Treibgut entdeckt: Das Tagebuch der jungen Nao. Die beiden Erzählerinnen ähneln sich in ihren japanisch-amerikanischen Identitäten, weitere, unerwartete Gemeinsamkeiten zeigen sich im Laufe der Geschichte. Der Roman arbeitet aber auch mit Kontrasten: Der entbehrungsreiche Alltag auf einer kleinen Insel und friedliches Klosterleben stehen schonungslosen Beschreibungen von Selbstmordversuchen, psychologischem und physischem Missbrauch gegenüber.
Hippies und Massenmörder
Beschrieben wird Cortes als „benannt nach einem berühmten spanischen Conquistador, der das Aztekenreich zu Fall brachte. Im Gegensatz zu ihm schafften es seine Männer weiter nach Norden, weshalb die Namen bekannter spanischer Massenmörder über die Meerengen und Sunde der Küste British Columbias verstreut sind. Trotz ihres blutrünstigen Namens war die ihre eine recht gutartige und freundliche kleine Insel […] Für zwei Monate im Jahr schien die Sonne. Aber wenn die Touristen und Sommer-Hippies verschwanden, verdunkelte sich der blaue Himmel und die Insel zeigte zähnefletschend ihre ungehobelte Seite. Die Tage wurden kürzer und die Nächte länger und für die nächsten zehn Monate regnete es. Den Einheimischen, die das ganze Jahr hier verbrachten, war das recht (eigene Übersetzung).“
Während meines Besuchs Mitte Mai verwandelt sich Cortes gerade langsam aber sicher in das „Inseljuwel“ der Sommermonate. Das bunt gestrichene Reformhaus und der Umsonstladen neben dem Recyclinghof geben genau den im Roman beschriebenen Eindruck einer Hippiekommune wieder. Die Buchhandlung auf der Insel führt alle Werke der Autorin. Als ich ihr neuestes Buch The Face: A Time Code (Restless Books, 2016; noch nicht auf Deutsch erhältlich) in die Hand nehme, fragt mich die Besitzerin, ob ich denn wisse, dass die Autorin auf Cortes lebe. Oh ja: Die Tatsache, dass Ruth Ozeki sowohl die Autorin als auch eine der Hauptfiguren in Geschichte für einen Augenblick ist, war einer der Gründe für meine Entscheidung, die Insel zu besuchen. Wie ehrlich kann die Darstellung eines Ortes sein, wenn klar ist, dass sämtliche Bewohner:innen sie lesen werden?
Der Realismus und seine Gegenspieler
Auf Quadra, der Nachbarinsel, konnte ich schon feststellen, dass Ozekis Beschreibung sehr lebensnah ist. Als ich dort den Grund meines Besuchs erwähnte, wurde mir sofort erklärt, wo sich das Haus der Autorin befinde und dass ich doch einfach dort vorbeischauen solle. Diese Einstellung wird von Ozeki im Roman als ein Verhalten beschrieben, an das sie sich auch nach Jahren auf Cortes immer noch nicht ganz gewöhnen kann. Als ich im Cortes-Museum nach dem offiziellen Namen eines Ortes frage, der im Roman „Japsenfarm“ genannt wird, macht die Antwort deutlich, dass ich nicht die Erste bin, die diese Frage stellt. Beim Blick über die Regale mit den Werken lokaler Autor:innen, die auch hier ausgestellt sind, frage ich mich, wie viele Besuche wie meinen Geschichte für einen Augenblick und andere Romane inspiriert haben.
Seine zahlreichen Schauplätze könnten Leser:innen des Romans allerdings genauso gut dazu veranlassen, nach Japan zu reisen. Trotzdem bilden Ozekis präzise und realitätsnahe Beschreibungen doch hauptsächlich den Hintergrund für die sich entfaltende Handlung. Dabei verwebt sie zwei scheinbar inkompatible Weltbilder: Buddhistische Philosophie und Hugh Everetts Viele-Welten-Interpretation. Durch das Aufzeigen ihrer Gemeinsamkeiten macht die Autorin das Motiv der Verbindung zur Basis für die wichtigste Wendung im Roman. Für ein Buch, das sich mit vielen ernsten und traurigen Themen auseinandersetzt, hat Geschichte für einen Augenblick ein erstaunlich gutes Ende. Es hätte aber auch leicht anders ausgehen können.