The border wall in Tijuana up close

Tijuana: Nicht schön, aber fruchtbar

Die Straßenbahn von San Diego nach Tijuana ist auch mitten am Tag gut gefüllt. Die Fahrt durch die trockene, staubige Landschaft dauert etwa zwanzig Minuten, bis wir am Grenzübergang für Fußgänger ankommen. Die meisten Passagiere gehen direkt zur Passkontrolle, während ich in einer Wechselstube amerikanische Dollar in mexikanische Pesos umtauschen lasse. In der Halle des zweckmäßigen grauen Gebäudes wird die Schlange für US und mexikanische Staatsbürger:innen schnell kürzer. Für andere Nationalitäten dauert der Prozess etwas länger. Nach dreißig Minuten trete ich in Mexiko wieder ins Licht der Sonne. Die Landschaft ist dieselbe, aber so gut wie alles andere hat sich verändert: Stadtbild und Architektur, Sprache und Geldscheine, selbst die Gerüche sind anders. Die Straßen sind voller Menschen, Autos, Taxis und Busse.

Der ikonische Grenzzaun

Lange Autoschlangen auf dem Weg in die USA erinnern mich daran, dass Tijuana die meistbesuchte Grenzstadt der Welt ist. Das war nicht immer so: Spanische Eroberer kolonisierten die Gegend des heutigen Kaliforniens im 16. Jahrhundert, aber die Grenze nördlich der Stadt wurde erst gezogen, nachdem Mexiko im mexikanisch-amerikanischen Krieg von 1848 Teile des Landes an die USA verlor. Der Name „Tijuana“ stammt allerdings nicht vom spanischen „tía Juana“ (Tante Johanna), sondern vom Ausdruck „an der Küste gelegen“ in Kamia, der Sprache der indigenen Gruppen der Kumiai, deren ursprüngliche Siedlungsgebiete von der umstrittensten Grenze dieses Jahrzehnts zerschnitten werden.

Playas de Tijuana with the border wall in the backgroundDer weltweit bekannte Grenzzaun, der ins Meer hineinreicht, befindet sich in Playas de Tijuana. Er gilt vielen als Symbol für die Willkür und Härte von Grenzen. Im Juni besuche ich die absurde Anlage: Auf amerikanischer Seite verstellt nichts den Blick bis zur Skyline von San Diego in der Ferne. Auf mexikanischer Seite reichen die Häuser bis an den Grenzzaun heran. Menschen angeln im Morgennebel. Auf einem Monument der Nuclear Age Peace Foundation (Organisation für Frieden im Atomzeitalter) steht, dass Lateinamerika jetzt und für immer ein von Nuklearwaffen freies Gebiet sein wird. Der Metallzaun selbst ist mit farbenfrohen Malereien und hoffnungsvollen Botschaften bedeckt, die mich an die Berliner Mauer und die Zeit des Kalten Kriegs in Deutschland denken lassen.

Eine Stadt wie ein Sumpf

Diesmal war es einfach, eine Veranstaltung zu finden: Durch eine Freundin werde ich zu einer Kunstintervention in der Innenstadt eingeladen. Im Bus dorthin spricht mich ein Mann auf Englisch an: „Entschuldigung, Sie sind nicht von hier, oder? Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie ihr Handy nicht so lax halten sollten. Sie sind ein leichtes Ziel für Diebstahl.“ Es ist das erste von zahlreichen Gesprächen, in denen mir eine einheimische Person in den nächsten Wochen Rat geben wird. Der Mann ist überrascht, dass ich nicht aus den USA komme – auch diese Aussage wird sich über die nächsten dreieinhalb Wochen wiederholen.

Die Veranstaltung beginnt mit einem Vortrag über die mexikanische Revolution von 1910/11 im Museo de Historia de Tijuana. Es geht um die kurze Zeit, in der Tijuana die Heimat einer anarcho-kommunistischen Gemeinschaft war. Die Magón-Brüder, die zu den Hauptinitiatoren des Gesellschaftsversuchs zählten, waren in der PLM (Liberale Partei Mexiko). Nachdem konservativere Kräfte die Oberhand gewannen, floh Ricardo Flores Magón in die USA, wo er mithilfe der mexikanischen Regierung in Kansas verhaftet wurde. Der Historiker erklärt, Magón habe als Anarchist das Ziel verfolgt, den Staat abzuschaffen; die mexikanische Regierung habe ihn aber nach seinem Tod zum revolutionären Helden des Sozialismus erklärt, was ein unverhohlene, aber weit verbreitete Umschreibung der historischen Fakten sei. Das Publikum reagiert mit Skepsis und diskutiert rege mit dem Vortragenden.

© Pepe Rojo

Anschließend zieht eine Gruppe von Künstler:innen und Mitgliedern der Kulturinstitutionen von Baja California mit rot-schwarzen Magonista-Flaggen durch die Innenstadt. Wir gehen von Bar zu Bar, schwingen unsere Flaggen und verteilen Aufkleber mit revolutionären Botschaften. Die Stimmung ist aufgedreht. Ich bin umgeben von Lyriker:innen, Musiker:innen, Schriftsteller:innen, Fotograf:innen, Tänzer:innen. Viele von ihnen überqueren die Grenze häufig, weil sie in San Diego studieren oder bei Kunstveranstaltungen mitwirken. Die meisten Teilnehmenden sind aus Mexiko oder den USA, manche aus Venezuela und Ecuador. Wir trinken und versuchen uns über die laute Musik hinweg über Kunst, Geschichte und Literaturtheorie zu unterhalten. Auf die Frage, was ihre Stadt besonders macht, bleibt mir eine Antwort im Gedächtnis: „Tijuana ist wie ein Sumpf: Nicht schön, aber fruchtbar.“

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