Während meiner Woche in Seattle war Sherman Alexie überall: Er wurde bei einer Stadtführung erwähnt, in der Bibliothek empfohlen, als einer der beitragenden Autor/innen zur jährlichen BFI-Sammlung What to Read in the Rain genannt, und nur eine Woche früher hätte ich ihn bei einer Lesung aus seinem neuen Buch You Don’t Have to Say You Love Me erleben können, in dem es um seine kürzlich verstorbene Mutter geht.
Der seit Jahren in Seattle wohnhafte Alexie gilt als einheimisch, doch seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Reservat der Spokane-Nation im Osten von Washington. Dieser Teil des Staates ist trockener, ärmer und weniger dicht besiedelt als die Küste im Westen. Das bis weit in den Nordwesten Idahos reichende Gebiet der Spokane-Nation umfasste Nadelwälder und eine große Wüste. Das Reservat erstreckt sich allerdings nur noch über einen Bruchteil der ursprünglichen Größe. Obwohl Spokane, die größte Stadt in der Gegend, vor kurzem von The Stranger als aufstrebend bezeichnet wurde, hat sie weiterhin den Ruf eines ungebildeten, gefährlichen und armen Ortes.

Junior und die Gemeinschaft
Alexies erstes Jugendbuch, Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeitindianers (dtv, 2011, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung), spielt in den Kleinstädten Wellpinit und Reardan. Die semiautobiographische Geschichte folgt dem vierzehnjährigen Arnold Spirit Junior durch sein erstes Jahr an einer Highschool, die sonst nur von weißen Jugendlichen besucht wird. Begleitet von Ellen Forneys Illustrationen verbindet Alexies Erzählung Traurigkeit und Humor.
Als Mitglied der Spokane-Nation hat Junior einen ungeschönten Blick auf Themen, die von Außenstehenden oft romantisiert oder ausgespart werden. Beispielsweise Armut: „Es ist kacke arm zu sein, und es ist kacke sich so zu fühlen, als hätte man es irgendwie verdient, arm zu sein. Du fängst an zu glauben, dass du arm bist, weil du dumm und hässlich bist. Und dann fängst du an zu glauben, dass du dumm und hässlich bist, weil du Indianer bist. Und weil du Indianer bist, fängst du an zu glauben, dass du dazu bestimmt bist, arm zu sein.“ (Übers. d. Aut.) Er sieht deutlich, dass dieser Teufelskreis aus Armut und Selbsthass auf Rassismus gegenüber indigenen Gruppen zurückgeht, der schon seit Beginn der europäischen Besiedlung Amerikas besteht: „Reservate waren als Gefängnisse gedacht, wusstest du das? Indianer sollten dorthin ziehen und sterben. Wir sollten einfach verschwinden.“ (Übers. d. Aut.)
Junior und das Erwachsenwerden
Neben diesen Einblicken und vielen tragischen Ereignissen im Buch ist Junior auch ein Jugendlicher mit den typischen Sorgen und Interessen dieser Lebensphase. Da ich lange Zeit keine Bücher mit einem heterosexuellen, männlichen Protagonisten gelesen hatte, war ich überrascht über die ausführlichen, lustigen und manchmal fragwürdigen Szenen, in denen es um Masturbation, Hormone und Ständer geht. Da Jugendbücher nicht oft auf meiner Leseliste stehen, weiß ich nicht, inwieweit das zu erwarten war. Während Junior manchmal versucht zu rechtfertigen, wieso er etwa Mädchen, die er attraktiv findet, anstarrt, ist er durchaus in der Lage, seine Gedanken und sein Verhalten kritisch zu hinterfragen: „Ich wollte sie anschreien, weil sie so oberflächlich war. Aber dann wurde mir klar, dass sie sich wie eine gute Freundin verhielt. […] Ich hatte an ihre Brüste gedacht, während sie an mein ganzes Leben dachte. Ich war der Oberflächliche.“ (Übers. d. Aut.)
In Laufe der Handlung wird Junior immer besser darin, sich in andere hineinzuversetzen. Die widersprüchlichen Gefühle gegenüber seiner Heimat werden langsam durch die Erkenntnis ersetzt, dass er gleichzeitig in der Spokane-Gemeinschaft und der weißen Mehrheitsgesellschaft leben und dabei ihre positiven Aspekte wertschätzen und ihr negativen kritisieren kann. Das absolut wahre Tagebuch schafft es dabei, zugleich konkret und allgemein zu sein: Es beschreibt die alltäglichen strukturellen Probleme einer indigenen Gemeinschaft in Nordamerika und verbindet sie mit dem universalen Wert, sich kennenzulernen und voneinander zu lernen. Und das, ohne den Humor zu verlieren: „Mann,“, sagt Junior einmal, „das war ganz schön viel für ein Kind. Ich sollte die Bürde meiner Kultur tragen, verstehst du? Davon würde ich sicher einen krummen Buckel bekommen.“ (Übers. d. Aut.)
Titelbild: Foto von Jesse Bowser